L. Gerosa u.a.: Katholische Kirche und Staat in der Schweiz

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Titel
Katholische Kirche und Staat in der Schweiz.


Autor(en)
Gerosa, Libero; Ludger, Müller
Reihe
Kirchenrechtliche Bibliothek 14
Erschienen
Wien 2010: LIT Verlag
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Raimund Süess

«Katholische Kirche und Staat in der Schweiz» beinhaltet die Vorträge, welche an einer Tagung in Lugano am 3./4. November 2008 gehalten wurden. Diese Konferenz hatte zum Ziel, das dualistische System der katholischen Kirche in der Schweiz darzustellen, konkrete Probleme und Schwierigkeiten aufzuzeigen und Lösungen zu suchen. Die Vorträge erschienen auch beim Armando Dadò Verlag in der jeweils originären Sprache (Libero Gerosa [Hg.], Chiesa Cattolica e Stato in Svizzera, Locarno 2009) sowie beim Schulthess Verlag in ausschliesslich französischer Sprache (Libero Gerosa/René Pahud de Mortanges [Hg.], Eglise catholique et Etat en Suisse, [=Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht, Bd. 25], Genf/Zürich/Basel 2010).

Das Buch lässt sich, bedingt durch den Tagungsgegenstand, als rechtswissenschaftlich, kanonisch-wissenschaftlich, theologisch als auch kirchenpolitisch charakterisieren. Aber auch andere Wissenschaftsgebiete werden herangezogen, wie die Kirchenrechtsgeschichte, indem etwa die historische Entwicklung der katholischen Kirche im Kanton Neuenburg (Bernard Jordan, 169ff.) oder Waadt (Philippe Gardaz, 217ff.) beschrieben wird.

Das Werk ist in vier Teile gegliedert: Zunächst werden die Grundlagen der staatskirchenrechtlichen Situation(en) in der Schweiz dargestellt. Es wird aufgezeigt, dass es sich beim teilweise historisch gewachsenen Verhältnis zwischen dem Staat und der katholischen Kirche in der Schweiz um eine Besonderheit handelt. Vielfach wird moniert, dass in unserem Land die Entflechtung zwischen Kirche und Staat noch zu wenig weit fortgeschritten sei und dass der korporativen Religionsfreiheit der Kirche mehr Gewicht verliehen werden müsste, um so dem Standard der westlichen Staaten nachzukommen (Carlo Cardia, 29ff.).

In diesem ersten Teil kommen aber auch schon einzelne Lösungsvorschläge und Ideen zur Sprache; so plädiert Giusep Nay (53ff.) für die Etablierung eines ausschliesslich kirchlichen Rechtsweges, womit ein weiterer Schritt zur institutionellen Distanzierung der Kirche vom Staat getan werden könnte.

In einem weiteren Aufsatz (Jean-Claude Périsset, 64ff.) werden die Regelungen im kanonischen Recht beleuchtet, wobei besonders auf das gemeinschaftliche und hierarchische Prinzip Wert gelegt wird, welche beide gleichsam für die kirchliche Gemeinschaft unabdingbar sind.

Häufig werden als Kritikpunkt die Bezeichnungen erwähnt, welche sich die staatskirchenrechtlichen Körperschaften gegeben haben; so erwecken Begriffe wie Landeskirche, Kantonalkirche oder Synode den Eindruck, dass es sich dabei wirklich um Kirchen handelt, obwohl diese Institutionen gegenüber der kanonisch verfassten Kirche in einer dienenden Funktion stehen sollten (Ivo Fürer, 80ff., Kurt Koch 85ff.).

Der zweite Teil des Buches ist konkreten und aktuellen Problemfeldern gewidmet, welche sich aus dem schweizerischen Staat-Kirche-Verhältnis ergeben. Es geht hier um Fragen wie: Ist die kantonale Körperschaft dazu befugt, den Kirchenaustritt zu regeln, bzw. einen solchen von der Kirchensteuerbefreiung abhängig zu machen? Weisen einzelne kantonale Ausgestaltungen Vorbildcharakter auf? Hätte der Fall Röschenz kirchenintern entschieden werden müssen und hatte der Diözesanbischof die Pflicht gehabt, das rechtliche Gehör zu gewähren? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen den kantonalen Körperschaften und dem Bistum in concreto? War die Eigentumsübertragung der Nidwaldner Kirchengüter von den kirchlichen Stiftungen zu den Kirchgemeinden in den Jahren 1991/1992 gerechtfertigt?

Letzteres ist Thema von zwei Beiträgen (Martin Grichting, 236ff., Paul Oberholzer, 260ff.), welche insbesondere aus rechts- und kirchengeschichtlicher Perspektive bemerkenswert und interessant erscheinen. Äusserst eingehend und detailliert werden der Ursprung und die Entwicklung der katholischen Kirche in Nidwalden und die Beziehung der Kirchgemeinden und ihren Kirchgenossen zum Kloster Engelberg, in welches die Kirchgemeinden inkorporiert waren, sowie zum damals zuständigen Bistum Konstanz unter dem Blickwinkel der Verwaltung der Kirchengüter nachgezeichnet. Es soll damit bewiesen werden, dass den Kirchgenossen zwar auch schon zu jener Zeit gewisse Rechte zuerkannt waren, wie z.B. bezüglich der Pfarrwahl oder der Verwaltung der Kirchengüter, aber trotzdem die Rechte des Bischofs dabei immer gewahrt blieben.

Besonders zu erwähnen ist des Weiteren der Aufsatz von Bernhard Ehrenzeller (187ff.): Darin bezeichnet er in treffender Weise die Position der kantonalkirchlichen Körperschaften als «Schwebezustand zwischen Nicht-Staat und Nicht-Kirche». Er bringt für beide involvierten Parteien gleichviel Verständnis auf und zeigt verschiedene, z.T. sehr innovative Lösungsvarianten auf, wie etwa die Möglichkeit einer kleinen, nur öffentlichen Anerkennung gemäss dem Vorbild des Kantons Neuenburg, die vermehrte Zusammenarbeit zwischen den einzelnen kantonalen Körperschaften und dem Bistum, zu dem sie gehören, oder die Statuierung von vertraglichen Regelungen zwischen Bistum und Kantonalkirchen. Dabei ist insbesondere an die nicht einfache Situation im Bistum Basel zu denken, welches das Territorium von zehn Kantonen umfasst. Auch die Errichtung von gemeinsamen Foren und Institutionen und sogar eine Neueinteilung der Bistümer hält Ehrenzeller nicht für ausgeschlossen.

Der dritte Teil enthält drei «weitere wissenschaftliche Beiträge zur Diskussion», wobei diese – gemäss Vorwort – nicht an der Tagung gehalten wurden. Von einem klaren Standpunkt aus äussert sich Kurt Koch (291ff.) zu den staatskirchenrechtlichen Institutionen in der Schweiz. Er ist davon überzeugt, dass die Kirche sich im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel neu ausrichten müsse hin zur «Revitalisierung [einer] grundlegend missionarischen Dimension», d.h. einer Wiederbelebung des in der alten Kirche vor der Konstantinischen Wende praktizierten Katechumenats im Sinne des sukzessiven und sorgfältigen Hinführens des einzelnen Menschen zum Christ-Sein. Um diese Herausforderung und neue Aufgabe wahrzunehmen, dürften sich einzelne Kirchgemeinden nicht autonom verhalten, sondern müssten sich der Gesellschaft gegenüber öffnen und gemeinschaftlich mit der Gesamtkirche handeln.

Juan Ignacio Arrieta (321ff.) geht in seinem Aufsatz genauer auf das neue Kirchenverständnis des 2. Vatikanischen Konzils ein und hebt insbesondere die aufgewertete Stellung des Bischofs hervor, welcher in einzelnen kantonalen Staatskirchenrechtssystemen noch zu wenig Rechnung getragen würde.

Bernhard Ehrenzellers Idee einer Neueinteilung der schweizerischen Bistümer nimmt sodann Libero Gerosa (333ff.) konkret auf: Auf der Grundlage eines Projektes der Schweizerischen Bischofskonferenz aus dem Jahre 1980 ist seine Vision, dass nebst den bisherigen Bistümern zusätzlich ein Bistum Genf, ein Bistum Luzern (mit Aargau, Luzern und Zug) und ein Bistum Zürich (mit Schaffhausen, Thurgau und Zürich) geschaffen würden und des Weiteren alle Bistümer auf einer übergeordneten Ebene in drei Kirchenprovinzen und einem exemten Bistum Lugano zusammengefasst werden sollten.

Das Buch schliesst mit einzelnen Voten der Tagungsteilnehmer ab. Erwähnt sei hier die Stellungnahme von Daniel Kosch (351ff.). Er stellt fest, dass die staatskirchenrechtlichen Strukturen, welche in den meisten Kantonen vorherrschen, sich immer noch am besten eignen würden, wenn man die schwierige finanzielle Situation der Kirchen in den Kantonen, welche die (obligatorische) Kirchensteuer nicht kennen, vor Augen halte. Trotzdem müssten in gewissen Punkten auch bei denjenigen staatskirchlichen Systemen, in denen für die Verwaltung der Kirchensteuer zuständige kirchliche Körperschaften geschaffen wurden, einzelne Modifikationen vorgenommen werden.

Da es sich um einen Tagungsband handelt, erstaunt es nicht, dass man bei den verschiedenen Beiträgen auf inhaltliche Wiederholungen stösst; dies ist insbesondere, bzw. typischerweise bei grundlegenden Punkten der Fall, wie z.B. der Beschreibung der verfassungsmässig garantierten Religionsfreiheit oder der grundsätzlich kantonalen Zuständigkeit für das Verhältnis Staat-Kirche.

Das Buch erschien knapp zwei Jahre nach der Tagung; was leider fehlt, aber die Leserschaft sicherlich interessieren würde, wäre daher ein aktueller Beitrag, der aufzeigt, welche Wirkungen das an der Tagung Erörterte auf das dualistische System der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz bislang gehabt hat, sowie ob – und wenn ja – welche Modifikationen am System vorgenommen wurden. Nichtsdestotrotz ist es, nicht zuletzt auch durch seine umfassende Darstellung, ein für die Zukunft wegweisendes und hilfreiches Instrumentarium, um die erklärten Differenzen zu erkennen und vielleicht einen Beitrag an der Behebung derselben zu leisten.

Zitierweise:
Raimund Süess: Rezension zu: Libero Gerosa/Ludger Müller, Katholische Kirche und Staat in der Schweiz (=Kirchenrechtliche Bibliothek, Bd. 14), Wien, LIT-Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 541-543

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